
Wir möchten Ihnen heute einen persönlichen Rückblick von Ruth Wessel vorstellen, die Nichte der ehemaligen Kiosk-Besitzerin Klara Franken. Viel Freude mit diesem wunderbaren Artikel!
März 1965. Bald ist Ostern und für mich haben die Schulferien schon begonnen. In diesen Jahren verreisen noch nicht so viele Leute wie heute in der Ferienzeit. Aber einige fahren doch in den Skiurlaub und einige wenige fliegen sogar in den Süden.
Auch ich verreise. Wie in den meisten Schulferien fahre ich von Düsseldorf nach Darmstadt zu meiner Tante Klärchen.
Tante Klärchen ist die Schwester meiner Mutter und heißt eigentlich Klara Franken. Mit ihr verstehe ich mich sehr gut und das Beste: Sie hat einen Kiosk! Und dieser Kiosk ist in diesen Jahren für mich der schönste Platz der Welt!
Nach dem Krieg hatte meine Tante zusammen mit ihrem Ehemann diese „Trinkhalle“ eröffnet. Vor allen Dingen ihr Mann war die tragende Säule. Er arbeitete dort an sechs Tagen die Woche ganztags sowie am Sonntagmorgen. Bis auf den Sonntagnachmittag und den vierwöchigen Sommerurlaub gab es für ihn keine Freizeit.
Auch während des Sommerurlaubs war geöffnet. Dann übernahm meine Tante für einen Monat die Arbeit im Kiosk. Circa 1962 kehrte ihr Ehemann aus dem Italienurlaub nicht mehr zurück. Er hatte sich im Urlaub in eine andere Frau verliebt.
Seitdem war meine Tante solo und bewirtschaftete den Kiosk weitgehend alleine.
Das hieß genauer gesagt: Jeden Morgen um 4:00Uhr aufstehen und fertig machen. Dann ab ins Auto und zum anderen Ende der Stadt fahren, wo der Kiosk auf einem kleinen Plätzchen an der belebten Straßenkreuzung Moltkestraße/Bessunger Straße steht.
Um 5:00 Uhr früh war hier immer schon viel los. Der Südbahnhof liegt in unmittelbarer Nähe und die umliegende Post-Siedlung war auch um diese Uhrzeit schon zum Leben erwacht. Die zur Arbeit gehenden waren alle in Eile und da hieß es, schnell sein mit der Zeitung, mit Zigaretten und manchmal auch mit einem kleinen Fläschchen Schnaps, das schon früh morgens gekauft wurde.
Meine Tante war der absolute Profi. Da sie über Jahrzehnte diesen Kiosk bewirtschaftete, wußte sie genau, was ihre Kunden, zumeist Stammkunden, morgens kauften. Fast wortlos ging das Geschäft über die Theke. Während dieser ersten hektischen drei Stunden wurde schon ein Drittel des Umsatzes gemacht, wie sie mir später einmal erzählte. Ich war in dieser Zeit hauptsächlich mit Anreichungen und mit Nachfüllen beschäftigt. Aber ab 8:00 Uhr begann dann mein eigentlicher Einsatz und ich konnte selbstständig verkaufen. Im Laufe der Zeit kannte ich alle Preise und wusste genau, welche aktuelle Illustrierte gerade an diesem Tag erschienen war.
Unterhalb des Kiosks befindet sich ein Keller. Hier hinunter musste der Bierlieferant die ganzen Kästen tragen und das über eine sehr schmale Treppe. Also hieß es mehrmals am Tag Getränkenachschub von unten nach oben zum Verkauf holen. Das war dann mein Part. Außerdem befand sich im Keller noch ein sehr wichtiges Objekt: die Toilette. Da hatten meine Verwandten schon weit voraus gedacht, als sie dieses Örtchen dort installieren ließen, denn sonst wäre man ganz schön aufgeschmissen gewesen.

Der Publikumsverkehr war in diesen Zeiten lebhaft, aber nicht hektisch, so dass auch immer ein kleines Schwätzchen mit den Kunden möglich war. Sehr interessant für mich waren die Süßigkeiten, die man hier in Hülle und Fülle aus unterschiedlichen Gläsern einzeln kaufen konnte. Kinder ließen sich gerne für ein paar Groschen eine Tüte nach Wunsch zusammenstellen. Auch mich interessierten diese süßen Tüten sehr und ich durfte des Öfteren mal ins Glas greifen. Für meine gute Mitarbeit ließ die Tante auch gerne mal ein Fläschchen Coca-Cola springen, damals noch original in der kleinen dickwandigen Glasflasche. Mit Süßigkeiten und Coca-Cola fühlte ich mich auf Wolke 7!

Nach einer täglichen Mittagspause von zwei Stunden (die meine Tante in ihrer Wohnung am Rhönring verbrachte), ging es um 15:00 Uhr mit dem Verkauf weiter. Gegen Abend kam dann nochmals ein Schwung an Kunden, die alle auf dem Heimweg waren. Getränkemärkte, in denen man heute alles bis 22:00 Uhr besorgen kann, existierten noch gar nicht oder waren noch nicht so umfangreich sortiert, wie das heute üblich ist. Auch Supermärkte boten noch keine Illustrierten und Zeitungen an. Man musste sich also für den Abend oder für den Sonntag frühzeitig im Kiosk mit allem gewünschten eindecken.
Um 19:00 Uhr wurde geschlossen. Dann ging es nach Hause und manchmal war auch dort noch ein bisschen Arbeit angesagt. Das große Kassenbuch lag immer auf ihrem Esstisch, und sie trug fast täglich ihre Umsätze und Ausgaben ein. Jeder konnte da also mitlesen.

Zigaretten, Getränke und Zeitschriften wurden direkt im Kiosk angeliefert. Von Zeit zu Zeit machten wir abends einen Einkauf im Großhandel Strädter, der bis 22:00Uhr geöffnet hatte. Dort wurden hauptsächlich Süßigkeiten, Knabberartikel und Schnaps besorgt. Diese abendliche Einkaufstour war für meine Tante eine ungeliebte Pflicht und eine zusätzliche Belastung zu ihrem ohnehin schon langen Arbeitstag.
Über mehrere Jahrzehnte hat sie hier gearbeitet. Bis auf die freien Sonntage und einige Urlaubswochen im Sommer war täglich geöffnet. Ich habe sie dabei oft in meinen Schulferien unterstützt.
Anfang der Neunzigerjahre, sie war schon längst im Rentenalter, hat sie sich schweren Herzens entschlossen, in den Ruhestand zu gehen und ihr Geschäft aufzugeben.
Nach dem Tod meiner Tante gerieten wir alle ins Staunen. Die Familie hatte immer geglaubt, sie käme mit ihrer Existenz gerade so über die Runden, aber in Wirklichkeit hatte ihr der Kiosk über Jahrzehnte eine gute wirtschaftliche Basis geschaffen und einen soliden Verdienst beschert.

Die Postsiedlung – Solidarität findet Stadt.